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Temporäre Radstreifen – nur für Großstädte oder auch in Nürtingen sinnvoll?

Um das Risiko einer Ansteckung zu vermindern sollen Menschen generell mindestens 1,5m Abstand voneinander halten. Die Corona-Verordnung der Landesregierung schreibt das für den öffentlichen Raum vor.

Damit der notwendige Abstand eingehalten werden kann, haben viele Städte weltweit mehr Platz für Menschen zu Fuß und mit dem Rad geschaffen. Darunter Bogotá, Berlin, Mexico City, Budapest, Vancouver, Wien, Brüssel, Oakland und viele andere.

These 5 cities are turning roads into bike lanes because of coronavirus

A greener way to travel.🔎 Learn more about the importance of bicycles: https://bit.ly/3eyow74

Gepostet von World Economic Forum am Freitag, 17. April 2020

Um die Fußwege zu entlasten hat Berlin gezeigt, dass temporäre Radstreifen quasi über Nacht möglich sind. Dort sieht es dann so aus:

Der Rundfunk Berlin-Brandenburg zeigt es hier im Video:

https://www.rbb24.de/panorama/thema/2020/coronavirus/av12/video-berlin-kreuzberg-kottbusser-damm-pop-up-radweg.html

Das kann jede Stadt in Deutschland!

In unserem offenen Brief an die Stadtverwaltung [0] schlagen wir temporäre Radstreifen deshalb auch für Nürtingen vor. Konkret geht es um die breiten Straßen zwischen Bahnhof und Werastraße.

Hier könnten temporäre, geschützte Radstreifen entstehen. Der Platz ist da.
Warum jetzt und warum dort?

Der Unterricht an den Schulen beginnt ab dem 4. Mai wieder – zunächst nur für die Abschlussklassen. Viele Schüler werden Bus und Bahn meiden, um eine Ansteckung zu vermeiden. Das Kultusministerium ruft Schüler und Schulpersonal auf, zu Fuß oder mit dem Rad zur Schule zu kommen. Aus dem bevölkerungsreichen Süden der Stadt (Braike, Neuffener Tal) gibt es aber keine sichere, von Eltern und Schülern breit akzeptierte direkte Radroute zu den Innenstadtschulen. Deshalb nehmen heute viele Schüler den Umweg via Sudetenstraße, Tiefenbachtal und dem engen Saubachtunnel in Kauf. Auch andere Routen führen meist via Saubachtunnel, z.B. über Kapellen- und Ludwigstraße. Nur wenige Schüler nutzen die anderen Bahnunterführungen am Amtsgericht und in der Gerberstraße.

Beliebte Route (rot), mögliche Alternative mit temporären, geschützten Radstreifen (blau)

Aber im viel genutzten Saubachtunnel können die Abstandsregeln nicht eingehalten werden. Zwischen Wand und Geländer ist dafür kein Platz. Auch der Luftaustausch ist im Tunnel schlechter als draußen. Der Tunnel muss deshalb entlastet werden und Schüler sowie Pendler möglichst über andere, breitere Wege zu ihrem Ziel geführt werden.

Auch Pendler steigen derzeit aus gesundheitlichen Gründen von Bus und Bahn oder vom Auto aufs Fahrrad um [1]. So empfehlen Bundesgesundheitsminister Spahn und die WHO, wann immer möglich das Fahrrad zu nehmen [2]. Wer aber die Nürtinger Innenstadt in Nord-Süd-Richtung durchqueren muss, findet keine sichere und angstfreie Radroute vor: Man muss auf schmalen Streifen in der Bahnhofstraße oder ganz ohne Radverkehrsführung auf der Fahrbahn der Plochinger Straße fahren. Gefährlich enge Überholmanöver sind dort an der Tagesordnung und einer der Gründe, warum in Nürtingen so viele Leute mit dem Rad auf dem Gehweg fahren und dort das Abstand halten erschweren. Gerade für unroutinierte Umsteiger sind diese Straßen eine große Herausforderung und ein Anlass große Umwege in Kauf zu nehmen (z.B. via Saubachtunnel) oder gar nicht mit dem Rad zu fahren. Städte müssen aber jetzt für eine pandemietaugliche Mobilität sorgen. So kommentiert auch die Presse [3].

Kann der Kfz-Verkehr denn an diesem Straßenzug eine Spur abgeben?

Auf der Bahnhofstraße sind zwei Spuren pro Richtung vorhanden. Auch weiter südlich bis zur Ecke Neuffener-/Werastraße sind mehrere Spuren pro Richtung vorhanden. Auf der großzügig ausgebauten Bahnhofstraße fahren heute nur etwa 8.000 Kfz pro Tag [4]. Zum Vergleich: in der Neuffener Straße sind es etwa 18.000 Kfz pro Tag – mit nur einer Spur pro Richtung. Für den Kfz-Verkehr in der Bahnhofstraße ist also eine Spur pro Richtung völlig ausreichend, auch ganz ohne Corona! An der Bahnunterführung und bis zur Ecke Neuffener-/Werastraße sind mehrere Spuren vorhanden. Die meisten davon sind mehr oder weniger lange Abbiegespuren (bis zu sechs Spuren direkt vor dem Amtsgericht). Da die angrenzenden Straßen aber alle nur eine Spur pro Richtung aufweisen, dürften die Kfz hier auch mit einer Spur weniger pro Richtung auskommen.

Wenn ab dem 4. Mai die Neuffener Straße zwischen Werastraße und Fa. Heller unterbrochen wird und deshalb weniger Kfz von und nach Süden unterwegs sind, dann ist eine Spur pro Richtung ganz sicher entbehrlich. Planmäßig bleibt die Neuffener Straße bis November unterbrochen, mit einer zweiwöchigen Pause im Sommer [5].

Der Platz für einen Radstreifen zwischen Bahnhof und der Ecke Neuffener-/Werastraße ist also vorhanden, auch ohne Corona. Temporäre Radstreifen können zunächst befristet eingerichtet werden, z.B. für die Zeit der Baustelle in der Neuffener Straße. Währenddessen kann eine ausführlichere Prüfung erfolgen. Bis dahin können mit den temporären Radstreifen wertvolle Erfahrungen für die Zukunft gesammelt werden.

Wie können temporäre Radstreifen eingerichtet werden?

Die temporären Radstreifen in Berlin wurden auf Grundlage der bundesweit gültigen StVO eingerichtet. Wie man auf den Bildern aus Berlin sieht, wurden einfach Materialien zur Baustelleneinrichtung genutzt. Die Umsetzung ist also sehr kostengünstig und kann innerhalb weniger Stunden erfolgen. Die notwendige Planung nimmt wenige Tage in Anspruch.

Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg (vergleichbar mit einer Stadtverwaltung) erklärt die Rechtsgrundlage, welche auch in Nürtingen anwendbar ist [6]:

„Die Anordnung von straßenverkehrsbehördlichen Maßnahmen erfolgt stets gemäß § 45 der Straßenverkehrs-Ordnung. In Absatz 9 benannter Vorschrift wird festgelegt, dass Radfahrstreifen ohne das Vorliegen einer besonderen Gefahrenlage angeordnet werden könnten. Dies gilt auch für die Verbreiterung bestehender Anlagen.
Diese temporären Anordnungen können aufgrund der abgenommenen Verkehrsdichte ohne Verkehrsmengenzählungen durchgeführt werden. Diese sind aber auch sonst nicht zwingend notwendig.
Die Notwendigkeit für die schnelle Anordnung von Radfahrstreifen ergibt sich aus der Pandemiesituation als einer Gefahrenlage auch abseits des Verkehrsrechts: Da die existente Radverkehrsinfrastruktur nicht umfassend geeignet ist, die Abstands-Vorschriften der SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung zu befolgen, liegt eine Gefährdung des höheren Rechtsgutes der körperlichen Unversehrtheit vor. Weiterhin ist die Rechtsordnung betroffen, da die Beschaffenheit der öffentlichen Infrastruktur bei erlaubtem Mobilitätsverhalten zu immanenten Verstößen gegen die Eindämmungsverordnung als öffentlich-rechtlicher Vorschrift führt.“

Zusätzlich hat die Berliner Senatsverwaltung für Verkehr (entspricht dem Landesministerium für Verkehr) entsprechende Regelpläne für die Einrichtung von temporären Radstreifen erstellt, sie können hier abgerufen werden: https://www.berlin.de/senuvk/verkehr/politik_planung/rad/infrastruktur/download/Regelplaene_Radverkehrsanlagen.pdf. Diese Regelpläne könnte man auch in Baden-Württemberg nutzen. Bei Unsicherheiten kann die Stadtverwaltung bei übergeordneten Stellen wie dem Landesverkehrsministerium um Unterstützung bei notwendigen Abklärungen bitten.

Vor zwei Wochen schon hatten wir sowohl den Bundes- als auch Landesminister für Verkehr zusammen mit rund 70 Initiativen und Verbänden aufgefordert die notwendigen Richtlinien und Leitfäden auszuarbeiten [7].

Basierend auf den Erfahrungen aus Berlin gibt es einen Leitfaden für Stadtverwaltungen mit Zeitplan (z.B. 10 Tage von Entscheidung bis Umsetzung) von Mobycon: https://www.mobycon.nl/nieuws/handbuch-radverkehrsanlagen/

Wie geht es weiter?

Gerade in der Krise muss die Verwaltung auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren. Statt jahrelanger Planungen muss der öffentliche Raum jetzt so gestaltet werden, dass die Abstandsregeln der CoronaVO eingehalten werden können. Jetzt schon sollte sich die Stadtverwaltung auch auf die Zeit nach der Coronakrise vorbereiten. Andere Städte tun das bereits [8].

Die Abstandsregeln werden nicht nur im ÖPNV noch lange bleiben, entsprechend unattraktiv werden Bus & Bahn während der wirtschaftlichen Erholung für viele sein. Die Verwaltung muss Vorsorge treffen, dass ein beginnender Aufschwung nicht vom überbordenden Autoverkehr erdrückt wird. Die Nürtinger Unternehmerschaft hat 2019 bereits unter dem Kfz-Stau gelitten und musste Umsatzeinbußen und betriebliche Beeinträchtigungen hinnehmen. Derzeit ändern viele Menschen ihr Mobilitätsverhalten, jetzt ist der Moment um den Umstieg aufs Rad zu vereinfachen. Nur ein überzeugendes Angebot für Pendler um aufs Rad steigen kann verhindern, dass die Stadt im Stau versinkt und die wirtschaftliche Erholung abwürgt. Davon profitieren am Ende alle – Wirtschaft und Bevölkerung, egal welches Verkehrsmittel sie nutzen.

Zusammenfassend:

Die Abstandsregeln können im öffentlichen Raum oft nicht eingehalten werden. Menschen zu Fuß und mit dem Rad brauchen mehr Platz und müssen an Engstellen wie den Saubachtunnel mehr Abstand halten. Das ergibt sich aus der CoronaVO der Landesregierung. Der Kfz-Verkehr ist andererseits seit Beginn der Coronakrise zurückgegangen und nimmt nur leicht wieder zu. Umsteiger von Bus, Bahn und Auto brauchen jetzt sichere und angstfrei nutzbare Radinfrastruktur.

Ein bisschen weiter in die Zukunft gedacht, können wir jetzt den Grundstein legen, damit die Stadt in einer wirtschaftlichen Erholung nicht im Dauerstau versinkt. Mobilität kann dann möglich bleiben, wenn der flächeneffiziente Radverkehr beizeiten ein attraktives Angebot ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zeitnah zu handeln, wo möglich.

Die Abwägung der Bedürfnisse aller Verkehrsteilnehmer muss also stärker zu Gunsten von Menschen zu Fuß und mit dem Rad ausfallen. Im Straßenzug zwischen Bahnhof und der Ecke Neuffener-/Werastraße ist genug Platz um einen temporären Radstreifen anzulegen, ohne dass damit der Kfz-Verkehr nennenswert beeinträchtigt wird. Der Fuß- und Radverkehr kann die Abstandsregeln auf den bisher verfügbaren Wegen nicht einhalten. Die Einrichtung der temporären Radstreifen ist also dringend geboten.

Handeln in der Krise heißt, auf diese krisenbedingten Veränderungen zu reagieren. Jetzt ist politischer Wille gefragt.

Links:

Andere Städte (und noch viele mehr):

Brüssel: https://polis-magazin.com/2020/04/bruessel-verwandelt-seine-innenstadt-in-eine-riesige-fahrrad-und-fussgaengerszone

Paris: https://www.forbes.com/sites/carltonreid/2020/04/22/paris-to-create-650-kilometers-of-pop-up-corona-cycleways-for-post-lockdown-travel/#728fc34a54d4

Großbritannien: https://www.bbc.co.uk/news/amp/science-environment-52353942

[0] Offener Brief an OB Johannes Fridrich:

http://criticalmass.nuertingen.org/offener-brief-an-oberbuergermeister-johannes-fridrich

[1] Weniger Autoverkehr, mehr Fahrrad:

https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-04/corona-alltag-konsum-stromverbrauch-wasserverbrauch-schlafverhalten-grafiken

https://www.sueddeutsche.de/auto/verkehr-stau-corona-1.4857721

[2] Die WHO empfiehlt: „Wann immer möglich, sollten Sie Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen. Dies ermöglicht Ihnen, körperliche Distanz zu wahren, und hilft Ihnen gleichzeitig, die Mindestanforderungen an die tägliche körperliche Betätigung zu erfüllen, was aufgrund zunehmender Telearbeit und des eingeschränkten Zugangs zu Sport und anderen Freizeitaktivitäten schwieriger sein kann.“

http://www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/novel-coronavirus-2019-ncov-technical-guidance/coronavirus-disease-covid-19-outbreak-technical-guidance-europe/moving-around-during-the-covid-19-outbreak

Bundesgesundheitsminister empfiehlt Rad und zu Fuß gehen

https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/jens-spahn-zum-coronavirus-jeder-kann-und-sollte-mithelfen-den-ausbruch-zu-verlangsamen-a-38f1e3f6-9ae9-4799-b781-43c104cd64af

[3] Handelsblatt, 22.04.20: „Bevor die Rückkehr in das öffentliche Leben kommt, müssen Städte für eine pandemietaugliche Mobilität sorgen“

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-die-pandemie-ist-eine-chance-fuer-die-verkehrswende/25760732.html

[4] Verkehrsmonitoring 2018: L1250 zwischen Nürtingen Steinengrabenstr. und Wendlingen, S. 148:

https://svz-bw.de/fileadmin/verkehrszaehlung/vm/BW_VM_2018_L.pdf

[5] Information der Stadtverwaltung zur Sanierung Neuffener Straße:

https://www.nuertingen.de/de/nuertingen-fuer-alle/rathaus-buergerservice/staedtische-aemter-einrichtungen/tiefbauamt/sanierung-neuffener-strasse

[6] Pressemitteilung des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg:

https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/aktuelles/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.920730.php

[7] Offener Brief an den Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer:

https://changing-cities.org/offener-brief-an-bundesminister-scheuer-zahlreiche-initiativen-fordern-umgehend-corona-sichere-rad-und-gehwege/

Offener Brief an den Landesminister für Verkehr Winfried Hermann:

https://zweirat-stuttgart.de/2020/04/15/offener-brief-an-bw-verkehrsminister-winfried-hermann/

[8] Mailand und Paris planen bereits für die Zeit nach dem Lockdown:

https://www.theguardian.com/world/2020/apr/21/milan-seeks-to-prevent-post-crisis-return-of-traffic-pollution

https://www.forbes.com/sites/carltonreid/2020/04/22/paris-to-create-650-kilometers-of-pop-up-corona-cycleways-for-post-lockdown-travel/#78fc1f7e54d4

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